Agnes Karll, geboren am 25. März 1868 in Embsen (heute ein Stadtteil von Lüneburg) und verstorben am 12. Februar 1927 in Berlin, war eine einflussreiche Persönlichkeit der deutschen Krankenpflege. Sie war nicht nur eine engagierte Krankenschwester, sondern auch eine mutige Reformerin, die sich für die Professionalisierung und gesellschaftliche Anerkennung des Pflegeberufs einsetzte. Ihr Lebenswerk prägte die Entwicklung der Krankenpflege nachhaltig, und ihr Engagement wirkt bis in die heutige Zeit.
Kindheit und Jugend
Agnes Karll wurde als Tochter des Gutsbesitzers Theodor Karll und seiner Frau Ida geboren. Ihre Kindheit war von der Trennung ihrer Eltern im Jahr 1881 geprägt, was die Familie in finanzielle Schwierigkeiten brachte. Trotz der belastenden Umstände war Agnes eine wissbegierige und ambitionierte junge Frau. Ihr ursprünglicher Berufswunsch war Ärztin, doch die ökonomische Situation verhinderte ein Medizinstudium. Stattdessen wählte sie zunächst eine Ausbildung zur Lehrerin.
Sie besuchte die Fortbildungsschule von Johanna Willborn in Schwerin, wo sie auch erstmals Kontakt zur Frauenbewegung hatte. Hier begegnete sie prominenten Persönlichkeiten wie Helene Lange, die sie stark prägten. Da Agnes Karll aufgrund ihres jungen Alters die Lehrerinnenprüfung nicht ablegen konnte, nahm sie 1886 eine Tätigkeit als Erzieherin und Privatlehrerin in Retgendorf (heute Dobin am See) sowie in Alt Gaarz auf. Im Alter von 19 Jahren erkannte sie jedoch, dass der Lehrberuf nicht ihren Vorstellungen entsprach.
Ausbildung und berufliche Anfänge
1887 begann Agnes Karll ihre Ausbildung zur Krankenschwester im Clementinenhaus in Hannover, das nach den Prinzipien von Florence Nightingale arbeitete. Diese Ausbildung vermittelte nicht nur praktisches Pflegewissen, sondern auch ethische Grundlagen und ein hohes Maß an Verantwortung. Nach erfolgreichem Abschluss ihrer Ausbildung arbeitete sie zunächst an den Universitätskliniken in Göttingen.
Ab 1891 widmete sie sich der privaten Krankenpflege, wobei sie vor allem in Berlin tätig war. Diese Arbeit ermöglichte es ihr, die Bedürfnisse von Patienten und Pflegekräften aus erster Hand zu verstehen. Gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass Pflegekräfte oft über ihren eigentlichen Aufgabenbereich hinaus als Haushaltshilfen oder Dienstmädchen missbraucht wurden. Diese Erfahrungen weckten in ihr den Wunsch, die Pflege als eigenständigen Beruf zu etablieren.
Internationale Erfahrungen
1894 reiste Agnes Karll in die Vereinigten Staaten, um dort die Methoden der Krankenpflege kennenzulernen. Sie war beeindruckt von den Standards und der Wertschätzung, die der Pflege in Amerika entgegengebracht wurden. Diese Erfahrungen inspirierten sie dazu, auch in Deutschland ähnliche Reformen voranzutreiben. Ihre internationalen Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen in England, Finnland, Italien, Österreich und den USA waren wegweisend für ihre spätere Arbeit.
Gründung des Berufsverbandes und Reformen
1903 gründete Agnes Karll die “Berufsorganisation der Krankenpflegerinnen Deutschlands sowie der Säuglings- und Wohlfahrtspflegerinnen” (BOKD), deren erste Vorsitzende sie wurde. Diese Organisation setzte sich für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, eine geregelte Ausbildung und den Schutz der Rechte von Pflegekräften ein. Der Verband bot seinen Mitgliedern zudem Arbeitsvermittlung, Versicherungen und rechtliche Beratung an.
Ein zentraler Punkt ihrer Reformen war die Einführung einer dreijährigen, fundierten Ausbildung für Krankenpflegekräfte. Sie betonte, dass Pflege weit über die reine Unterstützung ärztlicher Tätigkeiten hinausgehen müsse und eine eigenständige Profession mit wissenschaftlicher Grundlage sei.
Internationale Anerkennung
Im Jahr 1909 wurde Agnes Karll in London zur Präsidentin des Internationalen Weltbundes der Krankenpflegerinnen gewählt. Zusätzlich erhielt sie die Ehrenmitgliedschaft in der Oberinnen-Vereinigung von Großbritannien und Irland.
1913 übernahm sie als eine der ersten Frauen eine Dozentur an der Frauenhochschule in Leipzig. Während des Ersten Weltkriegs entzog sie sich den Anforderungen der Zeit durch Auslandsreisen, unter anderem in die USA, wodurch sie einem Einsatz an der Front entging. 1926 übernahm sie die Leitung eines nationalen Pflegekongresses in Düsseldorf, wo sie ihre reformerischen Ideen weiter voranbrachte.
Späte Jahre
In den letzten Jahren ihres Lebens widmete sich Agnes Karll verstärkt der Pflegeforschung und der Theoriebildung. Sie war befreundet mit der Schweizerin Emmy Oser, die sie mit dem Theologen und Sozialreformer Leonhard Ragaz bekannt machte. Gemeinsam diskutierten sie über die ethischen und sozialen Aspekte der Krankenpflege.
Agnes Karll starb 1927 in Berlin im Alter von 58 Jahren. Ihr Grab befindet sich auf dem Friedhof in Gadebusch.
Vermächtnis
Agnes Karlls Lebenswerk hat die Pflegeberufe in Deutschland nachhaltig verändert. Zu ihren wichtigsten Errungenschaften zählen:
- Die Gründung des ersten Berufsverbandes für Pflegekräfte in Deutschland.
- Die Etablierung einer fundierten Ausbildung für Krankenpflege.
- Die Anerkennung von Pflege als eigenständiger und respektierter Beruf.
Ihr Verband, der später in “Agnes-Karll-Verband” umbenannt wurde, ging 1973 im Deutschen Berufsverband für Krankenpflege e.V. (DBfK) auf. Der heutige Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe führt ihr Erbe fort.
Ehrungen
Zu Ehren von Agnes Karll wurden verschiedene Einrichtungen und Straßen nach ihr benannt, darunter:
- Das Agnes-Karll-Institut für Pflegeforschung in Berlin (AKI)
- Kliniken in Bad Schwartau und Laatzen
- Krankenpflegeschulen in Frankfurt am Main und Tettnang
- Straßen in Gadebusch, Mainz, Embsen und Elmshorn
- Mehrere Altenheime
Am 25. März 2018 wurde in der Agnes-Karll-Schule in Frankfurt am Main anlässlich ihres 150. Geburtstages eine Fotoausstellung eröffnet. 2018 wurde zudem in Köln-Lindenthal die Agnes-Karll-Straße nach ihr benannt.
Publikationen
Übersetzung von “A History of Nursing”
Agnes Karll übersetzte das bedeutende Werk “A History of Nursing” von Mary Adelaide Nutting und Lavinia Dock ins Deutsche. Die deutsche Ausgabe erschien zwischen 1910 und 1913 in drei Bänden. Dieses Buch gilt als Meilenstein für die Pflegegeschichte und förderte das Verständnis der Pflege als eigenständige Profession.
Beiträge zu Pflegezeitschriften und Vorträge
Agnes Karll veröffentlichte Artikel und Abhandlungen zu Themen wie Pflegeausbildung, Berufsethik und Rechte der Pflegekräfte. Sie hielt zahlreiche Vorträge auf nationalen und internationalen Kongressen, um die Professionalisierung der Pflege voranzutreiben.
Bedeutung
Agnes Karll prägte die Krankenpflege in Deutschland und darüber hinaus nachhaltig. Ihre Bedeutung liegt in folgenden Aspekten:
- Professionalisierung der Pflege:
Sie setzte sich für eine fundierte Ausbildung und eine eigenständige Berufsidentität der Pflegekräfte ein, weg von der Rolle als Hilfspersonal der Medizin. - Gründung des Berufsverbands:
Mit der Gründung der Berufsorganisation der Krankenpflegerinnen Deutschlands (BOKD) schuf sie die erste Plattform für die Interessenvertretung von Pflegekräften. - Internationale Vernetzung:
Als Präsidentin des International Council of Nurses förderte sie den globalen Austausch und die Standardisierung von Pflegestandards. - Einfluss auf die Pflegeethik:
Ihre Betonung der Pflege als fürsorgliche und zugleich wissenschaftlich fundierte Tätigkeit setzte Maßstäbe für die Berufsethik.
Agnes Karlls Vision und Engagement legten den Grundstein für die moderne Pflege und die Anerkennung dieses Berufs als zentralen Bestandteil des Gesundheitswesens.
Zusammenfassung
Agnes Karll (1868–1927) war eine Pionierin der Krankenpflege in Deutschland. Als Krankenschwester erkannte sie früh die Notwendigkeit, den Pflegeberuf zu professionalisieren und von hauswirtschaftlichen Aufgaben abzugrenzen. 1903 gründete sie die “Berufsorganisation der Krankenpflegerinnen Deutschlands” (BOKD), setzte sich für eine fundierte, dreijährige Ausbildung ein und prägte den Beruf maßgeblich. Ihre internationale Vernetzung führte 1909 zu ihrer Wahl als Präsidentin des International Council of Nurses. Karlls Einsatz für bessere Arbeitsbedingungen, berufliche Anerkennung und Pflege als eigenständige Profession wirkt bis heute. Nach ihr wurden zahlreiche Institutionen und Straßen benannt.