Die Rolle der Medizin im Nationalsozialismus und ihre Verbrechen

Die Medizin im Nationalsozialismus: Ärzte als Täter, Zwangssterilisationen, „Euthanasie“-Morde und grausame Experimente. Ein düsteres Kapitel der Wissenschaftsgeschichte.

Stephan Wäsche
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Amerikanische Sanitäter legen einen fast toten deutschen Zwangsarbeiter in einen Krankenwagen im Konzentrationslager Nordhausen. Die US-amerikanische 3. Armee befreite das Lager am 12. April 1945.Everett Collection (Shutterstock)

Die Medizin im Nationalsozialismus ist eines der schrecklichsten und verstörendsten Kapitel der modernen Geschichte, da sie zeigt, wie eng die Wissenschaft und Medizin mit einer ideologischen Agenda verflochten sein können, die auf Unmenschlichkeit und Ausgrenzung basiert. Ärzte und medizinisches Personal, die dem Hippokratischen Eid verpflichtet sein sollten, ihre Patienten zu heilen und zu schützen, verwandelten sich in Täter und Handlanger eines totalitären Regimes, das die systematische Vernichtung von Millionen Menschen verfolgte.

Die Entwicklung der Eugenik und Rassenhygiene

Die nationalsozialistische Medizin basierte auf pseudowissenschaftlichen Theorien, die bereits lange vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten existierten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die Eugenik, eine Bewegung, die darauf abzielte, die “menschliche Rasse” durch gezielte Züchtung zu “verbessern”. Der Begriff Eugenik kommt vom griechischen Wort „eugenes“, was „wohlgeboren“ bedeutet. Die Idee war, dass durch die Förderung der Fortpflanzung „gesunder“ Menschen und die Verhinderung der Vermehrung „minderwertiger“ Individuen eine genetisch „überlegene“ Bevölkerung geschaffen werden könne.

In Deutschland entstand aus diesen Vorstellungen die „Rassenhygiene“, die stark mit der Idee des „Sozialen Darwinismus“ verbunden war. Der Soziale Darwinismus übertrug Darwins Theorien von „natürlicher Selektion“ auf menschliche Gesellschaften. Der Gedanke war, dass schwächere Individuen in der Gesellschaft von der Fortpflanzung ausgeschlossen werden sollten, um das Überleben und die Stärkung der „fitteren“ Elemente zu sichern. Solche Ideen fanden auch in anderen Ländern Anhänger, darunter in den USA, wo in den 1920er Jahren Gesetze zur Zwangssterilisation von Menschen mit Behinderungen verabschiedet wurden.

Diese rassistischen und eugenischen Theorien lieferten die ideologische Grundlage für die Medizin im Dritten Reich. Die Nationalsozialisten übernahmen und radikalisierten diese Konzepte, um ihre Vorstellungen von einer „reinen arischen Rasse“ zu verwirklichen.

Die Rolle der Ärzte in der NS-Ideologie

Bereits vor der Machtergreifung 1933 hatten viele deutsche Ärzte Sympathien für die eugenischen Theorien entwickelt. Die „Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene“ wurde 1905 gegründet, und prominente Wissenschaftler wie Alfred Ploetz und Eugen Fischer waren in der medizinischen Gemeinschaft einflussreich. Diese Entwicklungen legten den Grundstein für das, was später als „rassenbiologische“ Forschung im Nationalsozialismus bekannt wurde.

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Jahr 1933 begann das Regime, diese Ideen in konkrete Politik umzusetzen. Viele Ärzte, die eigentlich dazu verpflichtet waren, das Leben zu schützen, wurden zu eifrigen Unterstützern der NS-Ideologie. Es war für Ärzte keine Seltenheit, sich als „Soldaten“ einer „biologischen Schlacht“ zu sehen, in der es darum ging, die „arische Rasse“ zu schützen und „unwertes Leben“ zu eliminieren.

Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ und Zwangssterilisationen

Eine der ersten Maßnahmen der NS-Medizin war die Umsetzung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ im Juli 1933. Dieses Gesetz ermöglichte die Zwangssterilisation von Menschen, die als erblich belastet galten. Als Erbkrankheiten wurden unter anderem Schizophrenie, Epilepsie, geistige Behinderung und „schwerer Alkoholismus“ definiert. Innerhalb weniger Jahre wurden etwa 400.000 Menschen zwangssterilisiert, darunter viele, die lediglich aufgrund von Armut, „unangepasstem Verhalten“ oder als „asozial“ stigmatisiert wurden. In diesen Fällen spielten Ärzte eine zentrale Rolle, da sie die „Diagnosen“ stellten und in der Regel auch die Sterilisationen durchführten.

Der Prozess der Zwangssterilisation war systematisch organisiert: In speziellen „Erbgesundheitsgerichten“ wurden die Fälle verhandelt. Der Entscheidungsprozess war jedoch oft eine Farce, und die Betroffenen hatten kaum eine Möglichkeit, sich zu verteidigen oder Berufung einzulegen.

Das „Euthanasie“-Programm: „Aktion T4“

Das sogenannte „Euthanasie“-Programm markiert eine weitere Eskalation der nationalsozialistischen Medizin. Obwohl der Begriff „Euthanasie“ im klassischen Sinne „guter Tod“ bedeutet, nutzten die Nationalsozialisten ihn als Euphemismus für den staatlich organisierten Massenmord an Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen. Dieses Programm begann 1939 unter strengster Geheimhaltung und erhielt den Decknamen „Aktion T4“ – benannt nach der Zentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4.

Die Opfer des „Euthanasie“-Programms wurden aus Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und Heimen in spezielle Tötungsanstalten gebracht. Dort wurden sie entweder durch Gas, tödliche Injektionen oder systematische Vernachlässigung ermordet. Die Tötungseinrichtungen – darunter Hadamar, Grafeneck, Hartheim, Bernburg und Sonnenstein – wurden nach industriellen Prinzipien betrieben, ähnlich den späteren Vernichtungslagern. Bis 1941 wurden mindestens 70.000 Menschen im Rahmen der „Aktion T4“ ermordet.

Obwohl die Aktion nach massiven Protesten, unter anderem von Kirchenvertretern, offiziell gestoppt wurde, ging das Morden im Geheimen weiter. Es wird geschätzt, dass bis Kriegsende etwa 200.000 Menschen im Rahmen der „Euthanasie“-Programme getötet wurden. Die Täter, darunter viele Ärzte, entwickelten dabei Methoden, die später bei der Vernichtung der europäischen Juden in den Konzentrationslagern zum Einsatz kamen.

Menschenversuche in den Konzentrationslagern

Ein besonders grausames Kapitel der nationalsozialistischen Medizin waren die Menschenversuche, die in den Konzentrationslagern an Häftlingen durchgeführt wurden. Die medizinischen Experimente waren in der Regel sinnlos und extrem brutal. In Auschwitz, Dachau, Buchenwald und anderen Lagern führten SS-Ärzte und ihre Mitarbeiter Experimente an jüdischen, polnischen, russischen und Sinti- und Roma-Häftlingen durch, um medizinische Erkenntnisse zu gewinnen oder Hypothesen zu überprüfen, die aus der nationalsozialistischen Ideologie stammten.

Eines der bekanntesten Beispiele für diese Verbrechen war Josef Mengele, der als „Todesengel von Auschwitz“ berüchtigt wurde. Mengele führte besonders grausame Experimente an Zwillingen durch, um seine Thesen zur „Erbgesundheit“ zu überprüfen. In den Lagern fanden auch Experimente zur Erforschung von Hypothermie (Unterkühlung) statt, um herauszufinden, wie lange Piloten nach einem Absturz in kaltem Wasser überleben konnten. In Dachau führte der SS-Arzt Sigmund Rascher Experimente zur Unterkühlung durch, um die Überlebensfähigkeit von Piloten zu testen, die in kalte Gewässer abstürzten. Häftlinge wurden in eiskaltes Wasser getaucht, um den Verlauf des Erfrierens zu beobachten. Auch hier starben viele der Opfer qualvoll, und die Ergebnisse dieser Experimente hatten keinerlei medizinischen Nutzen.

Ein weiteres grausames Experiment in den Lagern war die gezielte Infizierung von Häftlingen mit Krankheiten wie Fleckfieber oder Tuberkulose, um die Wirksamkeit von Impfstoffen zu testen. Diese Experimente waren jedoch weder wissenschaftlich fundiert noch ethisch vertretbar. Sie dienten oft nur dazu, den sadistischen Neigungen der Täter nachzugeben und die Häftlinge zu quälen.

Umgang mit den Toten

Der Umgang mit den Leichen der Opfer nach den Menschenversuchen war von einer erschreckenden Gleichgültigkeit und Unmenschlichkeit geprägt. Die Leichen wurden oft ohne jeglichen Respekt behandelt und in vielen Fällen als Rohmaterial für weitere wissenschaftliche oder ideologische Zwecke missbraucht.

Obduktionen und weitere „Forschung“ an Leichen

Nach dem Tod der Häftlinge wurden viele Körper obduziert, um „wissenschaftliche“ Erkenntnisse zu gewinnen. Diese Obduktionen dienten in der Regel nicht dem Lernen oder dem Fortschritt der Medizin, sondern waren oft Teil des grausamen Prozesses der Entmenschlichung. Besonders berüchtigt war die Sammlung von Schädeln und anderen Körperteilen von Häftlingen, die für rassistische Forschungszwecke verwendet wurden. Die SS-Wissenschaftler und Ärzte sammelten Leichenteile von als „minderwertig“ angesehenen Menschen, insbesondere von jüdischen Häftlingen, um ihre rassistischen Theorien zu untermauern.Ein bekanntes Beispiel ist die sogenannte „Juden-Skelett-Sammlung“, die unter der Leitung des Nazi-Wissenschaftlers August Hirt an der Universität Straßburg entstand. Hirt ließ im KZ Auschwitz 86 jüdische Häftlinge auswählen, die ermordet wurden, um ihre Körperteile für rassistische Studien zu konservieren. Die grausame Idee dahinter war es, eine Sammlung von Skeletten zu haben, die als „Beweis“ für die angebliche rassische Minderwertigkeit der Juden dienen sollte.

Leichenentsorgung

Nach den Menschenversuchen wurden die Leichen der Opfer oft in Massengräbern oder Krematorien entsorgt. In vielen Fällen wurden die Toten anonym beerdigt oder verbrannt, ohne jegliche Dokumentation. Die systematische Vernichtung der Leichen diente dazu, die Spuren der Verbrechen zu verwischen. In den großen Vernichtungslagern wie Auschwitz und Majdanek waren Krematorien ständig im Einsatz, um die Leichen der ermordeten Häftlinge zu verbrennen. Die sterblichen Überreste wurden dann in der Regel entweder verstreut oder in Massengräbern verscharrt.Die Masse der Toten und die katastrophalen Zustände in den Lagern führten oft dazu, dass Leichen tagelang liegen blieben, bevor sie entsorgt wurden. In vielen Fällen kümmerte sich das medizinische Personal oder das Lagerpersonal nicht weiter um die Leichen, da das Leben der Häftlinge generell als „wertlos“ betrachtet wurde.

Vernichtung von Beweismaterial

Gegen Ende des Krieges, als die Alliierten vorrückten und die Befreiung der Lager näher rückte, versuchten die Nationalsozialisten, die Spuren ihrer Verbrechen zu beseitigen. Dies galt auch für die Leichen der Opfer der Menschenversuche. In vielen Lagern wurden Massengräber ausgehoben, um die Leichen zu verbrennen und so Beweise für die medizinischen Verbrechen zu vernichten. Die SS und das Lagerpersonal versuchten, die Lager vor den heranrückenden Alliierten zu „säubern“, indem sie die Krematorien intensiver nutzten und Massengräber ausräumten.Trotz dieser Bemühungen wurden nach der Befreiung der Lager zahlreiche Beweise für die grausamen Menschenversuche und den Missbrauch der Leichen gefunden. Fotografien, Aufzeichnungen und die Aussagen von Überlebenden dokumentierten die Unmenschlichkeit des Umgangs mit den Toten.

Die Rolle der Ärzteschaft und die Ethikdebatte

Viele deutsche Ärzte beteiligten sich aktiv an diesen Verbrechen. Die Deutsche Ärzteschaft war eine der am stärksten in das nationalsozialistische System eingebundenen Berufsgruppen. Viele Ärzte traten früh in die NSDAP und die SS ein, und die Reichsärztekammer war ein willfähriger Unterstützer der nationalsozialistischen Politik. Die Medizin im Nationalsozialismus zeigt, wie leicht sich ethische Grundsätze opfern lassen, wenn sie einem vermeintlich „höheren“ Ziel untergeordnet werden.

Aufarbeitung nach dem Krieg

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam es 1946/47 im Rahmen der Nürnberger Prozesse zum „Ärzteprozess“. In diesem Prozess wurden 23 führende NS-Ärzte angeklagt, darunter Karl Brandt, Hitlers persönlicher Leibarzt, und Viktor Brack, einer der Hauptorganisatoren der „Euthanasie“-Programme. Zwölf der Angeklagten wurden für schuldig befunden und sieben zum Tode verurteilt.

Der Nürnberger Kodex, der aus diesem Prozess hervorging, legte die Grundlagen für moderne ethische Standards in der medizinischen Forschung. Er stellte klar, dass jede medizinische Forschung nur mit der freiwilligen Zustimmung der Versuchsperson erfolgen darf und dass das Wohl der Patienten immer an erster Stelle stehen muss.

Die Aufarbeitung der NS-Medizin zog sich jedoch lange hin. Viele der Täter konnten nach dem Krieg in die medizinische Praxis zurückkehren, da die Entnazifizierung in der Bundesrepublik Deutschland oft nur halbherzig umgesetzt wurde. Erst in den 1980er Jahren begann eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Rolle der Medizin im Nationalsozialismus.

Schlussfolgerung

Die Medizin im Nationalsozialismus lehrt uns eine wichtige Lektion: Wissenschaft und Medizin dürfen niemals von ethischen Grundsätzen abweichen, auch nicht im Namen des Fortschritts oder des nationalen Interesses. Die Verbrechen der NS-Ärzte sind eine schreckliche Erinnerung daran, wie leicht sich Menschen im Namen einer Ideologie dazu verleiten lassen können, ihre Mitmenschen zu entmenschlichen und das höchste Gut – das Leben – zu vernichten.

Die NS-Medizin ist ein mahnendes Beispiel dafür, wie entscheidend es ist, dass jede Form der medizinischen Praxis und Forschung auf Respekt vor dem Individuum und den universellen Menschenrechten beruht. Die ethischen Grundsätze, die nach dem Krieg formuliert wurden, sind eine Antwort auf diese Verbrechen, und es ist unsere Pflicht, sicherzustellen, dass solche Verbrechen niemals wieder geschehen.

Quellen und Literatur

  • Wildt, M. (2008) Geschichte Des Nationalsozialismus. Stuttgart: UTB fur Wissenschaft Uni-Taschenbucher.
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  • Spitz, V. (2005) Doctors from Hell: The Horrific Account of Nazi Experiments on Humans. Boulder: Sentient Publications.
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