In den letzten Jahren haben wissenschaftliche Untersuchungen vermehrt darauf hingewiesen, dass das Geschlecht der operierenden Person einen signifikanten Einfluss auf die postoperativen Ergebnisse haben kann. Insbesondere deuten Forschungsergebnisse darauf hin, dass Chirurginnen häufig bessere postoperative Resultate erzielen als ihre männlichen Kollegen. Diese Erkenntnisse werfen wichtige Fragen zur Rolle des Geschlechts in der Chirurgie auf und könnten weitreichende Implikationen für die medizinische Praxis und Ausbildung haben.
Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Chirurgie
Eine umfassende kanadische Kohortenstudie (Erschienen im Dezember 2021 in JAMA Surgery doi: 10.1001/jamasurg.2021.6339) analysierte die Daten von über einer Million Patienten, die sich zwischen 2007 und 2019 einer von 25 gängigen elektiven oder Notfalloperationen unterzogen hatten. Die Ergebnisse zeigten, dass Patienten, die von Chirurginnen operiert wurden, eine geringere Wahrscheinlichkeit für postoperative Komplikationen und eine niedrigere Sterblichkeitsrate aufwiesen. Konkret hatten 13,9 % der Patienten, die von Chirurginnen behandelt wurden, innerhalb von 90 Tagen nach der Operation unerwünschte Ereignisse, verglichen mit 14,3% bei männlichen Chirurgen. Nach einem Jahr betrugen die Raten 20,7% gegenüber 25%.
Eine weitere schwedische Studie untersuchte die Ergebnisse von Gallenblasenentfernungen und stellte fest, dass bei Operationen, die von Chirurginnen durchgeführt wurden, 39% weniger Komplikationen auftraten. Zudem nahmen sich Chirurginnen mehr Zeit für die Eingriffe, was auf eine sorgfältigere Vorgehensweise hindeutet.
Zusätzlich zeigte eine Analyse aus Japan, dass es bei komplexen Krebsoperationen keinen signifikanten Unterschied in der Sterblichkeit oder den Komplikationsraten zwischen männlichen und weiblichen Chirurgen gab. Dies deutet darauf hin, dass beide Geschlechter in der Lage sind, anspruchsvolle chirurgische Eingriffe mit vergleichbaren Ergebnissen durchzuführen.
Mögliche Erklärungen für die Unterschiede
Die Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Chirurgen lassen sich nicht allein durch technische Fähigkeiten oder Erfahrung erklären. Stattdessen spielen eine Reihe von Faktoren eine Rolle, die geschlechtsspezifische Arbeitsweisen widerspiegeln könnten:
- Sorgfalt und Präzision
Chirurginnen scheinen dazu zu neigen, Operationen gründlicher durchzuführen. Studien deuten darauf hin, dass sie häufig mehr Zeit pro Eingriff investieren, um Risiken zu minimieren. Dieser Ansatz kann postoperative Komplikationen wie Blutungen, Infektionen oder Verletzungen von Organen verringern. - Kommunikation im Team
In der Chirurgie ist die Zusammenarbeit im OP-Team entscheidend. Chirurginnen werden oft als effektivere Kommunikatorinnen beschrieben, die klare Anweisungen geben und eine positive Arbeitsatmosphäre fördern. Dies verbessert die Effizienz und Genauigkeit während der Eingriffe. - Empathie und Patientenorientierung
Weibliche Chirurgen zeichnen sich häufig durch ein hohes Maß an Empathie und Einfühlungsvermögen aus. Sie nehmen sich möglicherweise mehr Zeit, um Patientinnen aufzuklären und deren Fragen zu beantworten. Dies trägt nicht nur zur Patientenzufriedenheit bei, sondern kann auch zu besseren Ergebnissen führen, da Patienten besser vorbereitet in den Heilungsprozess gehen. - Vorsicht und Risikobewusstsein
Studien legen nahe, dass Chirurginnen Risiken besser abwägen und vorausschauender handeln. Anstatt sich auf Geschwindigkeit zu konzentrieren, setzen sie auf Genauigkeit, was langfristig zu besseren Ergebnissen führen könnte.
Es ist wichtig zu betonen, dass diese Hypothesen weiterer Forschung bedürfen und individuelle Unterschiede zwischen Chirurginnen und Chirurgen berücksichtigt werden müssen.
Warum gibt es nicht mehr Chirurginnen?
Trotz dieser positiven Ergebnisse bleibt die Chirurgie eine von Männern dominierte Disziplin. In Deutschland sind nur etwa 24 % der operierenden Fachkräfte Frauen. Die Gründe hierfür sind vielschichtig:
- Traditionelle Rollenbilder
Die Chirurgie wird oft als männerdominierter Beruf wahrgenommen, der körperliche und psychische Belastbarkeit erfordert. Diese Stereotype könnten Frauen davon abhalten, eine Karriere in diesem Bereich zu verfolgen. - Familienfreundlichkeit
Die langen Arbeitszeiten und die Anforderungen in der Chirurgie machen es schwierig, Beruf und Familie zu vereinbaren. Viele Frauen entscheiden sich daher für weniger zeitintensive medizinische Fachrichtungen. - Mangelnde Vorbilder
Der geringe Anteil an Chirurginnen bedeutet auch, dass es weniger weibliche Mentoren gibt, die jüngeren Ärztinnen den Weg in die Chirurgie ebnen könnten.
Was bedeutet das für die Zukunft der Chirurgie?
Die Forschungsergebnisse sollten als Weckruf dienen, um strukturelle Barrieren in der medizinischen Ausbildung und Praxis zu beseitigen. Hier sind einige Maßnahmen, die ergriffen werden könnten:
- Förderung von Frauen in der Chirurgie
Krankenhäuser und medizinische Einrichtungen sollten gezielte Programme zur Förderung von Chirurginnen entwickeln. Dazu gehören Mentoring-Programme, flexible Arbeitszeitmodelle und finanzielle Unterstützung während der Weiterbildung. - Bewusstsein für Diversität schaffen
Die Vorteile einer geschlechtergemischten Belegschaft sollten stärker betont werden. Diversität im OP-Team kann nicht nur die Patientensicherheit erhöhen, sondern auch Innovationen fördern. - Verbesserung der Arbeitsbedingungen
Um den Beruf der Chirurgie für Frauen attraktiver zu machen, sollten familienfreundliche Strukturen wie Kinderbetreuung, flexible Arbeitszeiten und Teilzeitmodelle eingeführt werden. - Forschung und Datenanalyse
Weitere Studien sind erforderlich, um die genauen Gründe für die Unterschiede zwischen Männern und Frauen in der Chirurgie zu verstehen. Eine umfassende Datenerhebung könnte dazu beitragen, die Arbeitsweise von Chirurginnen und Chirurgen weiter zu optimieren.
Herausforderungen und zukünftige Perspektiven
Trotz der positiven Befunde bleibt die Chirurgie eine von Männern dominierte Disziplin. In Deutschland sind von den rund 41.000 operierenden Fachkräften lediglich 24 % Frauen. Diese Diskrepanz könnte darauf hindeuten, dass eine stärkere Präsenz von Frauen in der Chirurgie nicht nur zur Geschlechtergerechtigkeit beitragen, sondern auch die Patientensicherheit und -versorgung verbessern könnte.
Die Studienergebnisse regen zu einer tiefergehenden Diskussion über die Bedeutung von Diversität und Geschlechtergleichstellung im medizinischen Bereich an. Sie unterstreichen die Notwendigkeit, strukturelle Barrieren zu identifizieren und abzubauen, die Frauen daran hindern, in chirurgischen Berufen Fuß zu fassen. Zudem könnten diese Erkenntnisse Impulse für die medizinische Ausbildung und die Gestaltung von Arbeitsumgebungen geben, um die Vorteile einer vielfältigen Belegschaft im Gesundheitswesen voll auszuschöpfen.
Fazit: Eine Chance für bessere Medizin
Die Ergebnisse der Studien sind ein starkes Argument für eine stärkere Präsenz von Frauen in der Chirurgie. Chirurginnen scheinen in vielen Fällen bessere Ergebnisse zu erzielen, was auf Sorgfalt, Präzision und eine patientenorientierte Herangehensweise zurückzuführen ist. Die Förderung von Frauen in der Chirurgie ist nicht nur eine Frage der Gleichberechtigung, sondern könnte auch zu einer verbesserten Patientenversorgung führen. Indem die Medizin Geschlechtergerechtigkeit und Diversität ernst nimmt, kann sie sowohl für Ärzte und Ärztinnen als auch für Patienten und Patientinnen gewinnen.
Quellen
- Mehr Frauen im OP-Team führen zu besseren Ergebnissen (2024) Healthcare-in-europe.com. Verfügbar unter: https://healthcare-in-europe.com/de/news/frauen-chirurgie-team-bessere-ergebnisse.html (Zugegriffen: 19. November 2024).
- Japanische Studie – Gleiche OP-Qualität von Chirurgen und Chirurginnen – BDC (2022) BDC. Verfügbar unter: https://www.bdc.de/japanische-studie-gleiche-op-qualitaet-von-chirurgen-und-chirurginnen/ (Zugegriffen: 19. November 2024).
- Deutscher Ärzteverlag GmbH (2023) Chirurginnen operieren langsamer, aber mit weniger Komplikationen, Deutsches Ärzteblatt. Verfügbar unter: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/145654/Chirurginnen-operieren-langsamer-aber-mit-weniger-Komplikationen (Zugegriffen: 19. November 2024).
- Regitz-Zagrosek, in V. (2022) Bestimmt das Geschlecht die Behandlungsergebnisse?, Springer Medizin Verlag GmbH, Ärzte Zeitung. Verfügbar unter: https://www.aerztezeitung.de/Medizin/Bestimmt-das-Geschlecht-die-Behandlungsergebnisse-430814.html (Zugegriffen: 19. November 2024).
- praktischArzt (2020) Chirurgie: Frauen führen weniger komplexe Operationen durch als Männer, praktischArzt. Verfügbar unter: https://www.praktischarzt.ch/magazin/chirurgie-frauen-fuehren-weniger-komplexe-operationen-durch-als-maenner/ (Zugegriffen: 19. November 2024).
- Deutscher Ärzteverlag GmbH (2017) Sind Frauen die geschickteren Chirurgen?, Deutsches Ärzteblatt. Verfügbar unter: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/81839/Sind-Frauen-die-geschickteren-Chirurgen (Zugegriffen: 19. November 2024).
- Deutscher Ärztinnenbund e.V.: Bewegung in der Genderdebatte in der Chirurgie (ohne Datum) Aerztinnenbund.de. Verfügbar unter: https://www.aerztinnenbund.de/Bewegung_in_der_Genderdebatte_in_der_Chirurgie.3714.0.2.html (Zugegriffen: 19. November 2024).